Nachtrag zur Petition Nr. 76323 (Pet 2‐19‐15‐8271‐003053)
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Adipositas ist eine chronisch-fortschreitende Krankheit, die aufgrund der Vielzahl an Folge- und Begleiterkrankungen eine enorme Herausforderung für Patienten, Behandler und das Gesundheitssystem darstellt. Neben verhaltens- und verhältnisbezogenen Faktoren sind es insbesondere endokrinologische Prozesse, die das Gewicht regulieren. Die Pathophysiologie der Adipositas lässt den menschlichen Körper das einmal erreichte Körpergewicht immer wieder anstreben. Verstärkt durch die Anpassung des Grundumsatzes an eine reduzierte Energieaufnahme sind Maßnahmen zur Gewichtsreduktion stark limitiert und erklären den ernstzunehmenden chronischen Charakter der Adipositas. Um einen dauerhaften Gewichtsanstieg zu verhindern, muss deshalb frühzeitig therapeutisch interveniert werden. Es braucht sinnvolle Rahmenbedingungen, da Adipositas sich mit einem langen Vorlauf entwickelt, bis sie sich chronifiziert und patientenindividuell therapiert werden muss. Aufgrund ihrer Erkrankung scheiden Patienten zudem häufig aus dem Erwerbsleben aus, was die psychologischen Folgen dramatisch erhöht.
Das Bundessozialgericht hat in mehreren gleichlautenden Urteilen am 19.02.2003 festgestellt, dass es sich bei einer behandlungswürdigen Adipositas um eine Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne handelt (B 1 KR 1/02 R, 2003) und daher unabhängig der Ursache eine Leistungspflicht der GKV besteht. Krankheitslast und -kosten führten 2013 bis 2015 zur Abbildung der Adipositas mit Krankheitsbezug (BMI ≥35) im Morbi-RSA (HMG251). Trotzdem wird die Adipositas in Deutschland weithin als reines Lebensstilproblem außerhalb des Verantwortungsbereichs der GKV und der Rentenversicherung gesehen. Somit findet keine flächendeckende, leitlinien- und bedarfsgerechte Versorgung der Erkrankung statt.[i] Die Patienten erhalten eine symptomorientierte Therapie der Folgeerkrankungen, aber keine Therapie der Ursache selbst.
Als medizinische Expertenorganisation des GKV-Spitzenverbands definiert auch der MDS die Bestandteile einer leitlinienkonformen Therapie der Adipositas[ii], die jedoch derzeit nur von PKV-Versicherten oder als IGEL-Leistung erhältlich sind. Damit steht der sozialrechtliche Leistungsanspruch der Versicherten im Widerspruch zur aktuellen Versorgungsrealität
[i] Klein S, Krupka S, Behrendt S et al. Weißbuch Adipositas. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft; 2016
[ii] Medizinischer Dienst des GKV Spitzenverbandes (MDS) [2017] Adipositas-Chirurgie (Bariatrische und Metabolische Chirurgie) bei Erwachsenen –Prüfung der sozialmedizinischen Voraussetzungen https://www.mds-ev.de/aktuell/aktuelle-meldungen/2017-10-18.html
Adipositas muss in der Versorgung mit anderen chronischen Erkrankungen gleichgestellt werden. Sie bedarf einer individuellen Diagnostik, Beratung und Therapieentscheidung des Arztes, die die persönlichen Möglichkeiten des Patienten berücksichtigt. Außerdem muss die Therapie, wie bei allen anderen chronischen Erkrankungen, lebenslange Behandlungsoptionen umfassen. Darunter fallen alle Therapieoptionen beider S3-Leitlinien[i] von der individuellen Therapie über die Gruppenschulung bis zur bariatrischen und metabolischen Chirurgie. Chirurgische Interventionen stellen dabei nicht das Ende der Behandlungskaskade dar, sondern sind ein Baustein einer lebenslangen Versorgung, die nach einer Operation lückenlos fortgesetzt werden muss.
Eine bedarfsgerechte Therapie von krankhaft adipösen Patienten kann Schäden durch Folge- und Begleiterkrankungen reduzieren und direkte und indirekte Gesundheitskosten im Rahmen der Sekundärprävention senken. Im Vordergrund einer erfolgreichen Behandlung steht, ergänzend zum Ziel einer Gewichtsstabilisierung bzw. -verlusts, die Verbesserung Adipositas bedingter Folge- und Begleiterkrankungen (z.B. Hypertonie, Diabetes mellitus). Eine patientenorientierte Versorgung berücksichtigt patientenseitige Faktoren (Ausgangsgewicht und -verlauf, Ursachen, Komorbiditäten) und individuelle Möglichkeiten zur Therapieteilnahme und -umsetzung.
[i] Deutsche Adipositas Gesellschaft [2014] Interdisziplinäre Leitlinie der Qualität S3 zur „Prävention und Therapie der Adipositas“, AWMF-Register Nr. 050 – 001;
Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie [2018] S3-Leitlinie: Chirurgie der Adipositas und metabolischer Erkrankungen, AWMF-Register Nr. 088 – 001
Obwohl auch der Medizinische Dienst des GKV-Spitzenverbandes (MDS)Vi auf Grundlage beider S3-Leitlinien eine leitlinienkonforme Krankenbehandlung definiert, sind die z.T. zeitaufwendigen Module einer ambulanten multimodalen Diagnostik und Therapie für die Indikation Adipositas nicht verordnungsfähig, über die Grundpauschale abgegolten oder als Leistungsart nicht im SGB V definiert:
Die fehlende Abbildung der Leistungsmodule in den Leistungskatalogen der vertragsärztlichen Versorgung ist einer der Hauptursachen für die fehlende flächendeckende, konservative Adipositastherapie in Deutschland. Der DAK-Versorgungsreport Adipositas weist auf dieses Problem hin. Derzeit erhalten nur ca. 1 % der DAK-Versicherten mit dokumentierter ICD-10-Diagnose „Adipositas“ (E66) eine Ernährungsberatung oder Diättherapie[i]. Demnach erhalten nur 0,025 % ein multimodales Therapieproramm finanziert.
[i] Nolting H-D, Krupka S, H. S et al. Versorgungsreport Adipositas. Chancen für mehr Gesundheit. In: Rebscher H ed, Beiträge zur Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung. Hamburg: DAK-Gesundheit; 2016
Ein isolierter, mit der konservativen Therapie unzureichend verzahnter Adipositas-chirurgischer Eingriff ist aktuell die einzige Versorgungsoption, die im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung bundeseinheitlich zugänglich und vergütet ist (DRG-Fallpauschale K04Z). Dessen Finanzierung knüpfen die Krankenkassen an das „Versagen“ leitliniengerechter, konservativer Therapiemaßnahmen, die sie jedoch nicht finanzieren. Sie lassen die Durchführung dieser Maßnahmen als Voraussetzung eines Adipositas-chirurgischen Eingriffs i.S. der Stufentherapie z.T. regelhaft prüfen. Die vom MDS für die Sicherstellung einer leitliniengerechten, langfristigen Therapie eingeforderte postoperative Nachsorge nach einem Adipositas-chirurgischen Eingriff ist ebenfalls nicht im EBM-Katalog und den vertragsärztlichen Budgets abgebildet. Diese ist aber für die postoperative Sicherung des Therapieerfolgs sowie zur Vermeidung potentieller Spätkomplikationen essentiell.
Leistungskonzept einer multimodalen und berufsgruppenübergreifenden Adipositastherapie
Um den sozialrechtlichen Leistungsanspruch der Versicherten auf eine bedarfsgerechte und leitliniengerechte Adipositastherapie sicherzustellen, müssen die bestehenden leistungsrechtlichen Vorgaben um die nachfolgenden Bestandteile der Adipositastherapie ergänzt werden. Ausgehend vom Patientenpfad bedarf es verschiedener, ineinander übergehender Diagnostik- und Therapiebestandteile. Bislang werden die meisten für die Indikation Adipositas nicht regelhaft vergütet. Zwar existieren vereinzelte IV-Verträge, die den Patientenpfad abbilden, diese sind jedoch regional begrenzt und kommen auch dort nur betroffenen Patienten einer Krankenkasse zugute.
Die Etablierung einer zweckmäßigen und wirtschaftlichen Adipositastherapie bedarf umfangreicher Regelungen insbesondere in der vertragsärztlichen Versorgung sowie im Heilmittelbereich.
Definition von eigenständige EBM-Gebührenordnungspositionen (GOP) für ärztlichen Leistungen für Adipositas im Abschnitt 30 „Spezielle Versorgungsbereiche“.
Eine multimodale Gruppentherapie, die Elemente der Ernährung, Bewegung und des Verhaltens umfasst, sollte berufsgruppenübergreifend über einen Zeitraum von 6 – 12 Monaten als Primärtherapie angeboten werden. Aktuell ist diese nur eine ergänzende Leistung zur ambulanten Rehabilitation gem. §43 SGB V.
Zur Sicherstellung einer zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung von komplexen, chronischen Erkrankungen sollte im SGB V ein eigener Leistungsbereich für die interprofessionelle, multimodale Gruppentherapie geschaffen werden (ggf. Ergänzung § 27 Krankenbehandlung SBGV). Für die einzelnen Indikationen sind die Inhalte und Qualitätsanforderungen einmalig festzulegen. Die Programme haben diese zu erfüllen und müssen nicht, wie aktuell bei Gruppentherapieprogrammen gem. § 43 SGB V erforderlich, einen eigenständigen Evidenznachweis durch RCTs erbringen.
6 – 12-monatige Gruppenprogramme sind von vielen Patienten schwer durchführbar, da zeitlich feste Therapietermine über einen so langen Zeitraum nicht wahrgenommen werden können. Ursache hierfür sind u.a. fehlende Betreuungsmöglichkeiten, Vereinbarung mit Arbeitszeiten und Dienstplänen, etc. Daher sollten die Module einer multimodalen Therapie auch als Individualtherapie angeboten werden.
Bundesweite Implementierung eines Reha-Sport-Konzeptes Adipositas, um Qualitätsunterschiede in der Bewegungstherapie zu vermeiden.
Adipositas kann eine psychopathologische Ursache haben, sodass zunächst diese im Therapiefokus stehen sollte. Die Therapie der Adipositas selbst kann aber auch einer psychotherapeutischen Unterstützung bedürfen, insbesondere bei der Überwind
Notwendige, jedoch besonders aufwendige Laboruntersuchungen sind insbesondere bei der Eingangsdiagnostik zur Abklärung möglicher pathologischer Ursachen sowie vor und nach Adipositas chirurgischen Eingriffen erforderlich
Die bariatrisch-metabolische Chirurgie ist evidenzbasiert die derzeit effektivste Behandlungsmethode zur Therapie der höhergradigen Adipositas. Sie führt nicht nur zu einer deutlichen Gewichtsreduktion, sondern auch zu einer Verbesserung der Lebensqualität, Funktionalität und Reduktion der Begleitmorbidität betroffener Patienten, insbesondere dem Diabetes mellitus Typ 2. Sie kommt dann zum Einsatz, wenn konservative Therapieansätze ausgeschöpft oder primär nicht erfolgsversprechend sind, wobei weitere durch die Leitlinien definierte Voraussetzungen erfüllt sein müssen.
Die Indikationsstellung für eine Adipositas chirurgische Operation sollte interdisziplinär in einer Fallkonferenz gestellt werden. Hier fließen nicht nur die Ergebnisse der bisherigen Diagnostik und Therapie ein, sondern bedürfen einer ergänzenden Diagnostik potentieller Ausschlusskriterien. Mit dem Patienten sind Nutzen und Risiken der Operation sowie über die langfristigen Konsequenzen und Erfordernisse ausführlich zu besprechen. Idealerweise wird zur Vorbereitung ein Vorbereitungskurz angeboten.
Die zentrale Herausforderung nach bariatrisch-metabolischer OP besteht in der Notwendigkeit einer langfristigen Nachsorge und lebenslangen Betreuung durch ein interdisziplinäres Teamvi. Ziel der Nachsorge ist die Sicherstellung des langfristigen Behandlungserfolgs sowie die Vermeidung oder frühzeitige Behandlung etwaiger postoperative Probleme, wie bspw. Spätkomplikationen oder Malnutrition. Die Notwendigkeit der langfristigen Nachsorge und deren Anforderungen sind in den nationalen und internationalen Leitlinien verankert.vii; [i] Die Nachsorge soll im ersten postoperativen Jahr vierteljährlich, im 2. Jahr halbjährlich und danach jährlich erfolgen.
Der chronische Charakter der Adipositas sowie die Verhaltensanfälligkeit des Therapieerfolgs machen auch bei sehr erfolgreich verlaufenden Therapieverläufen eine kontinuierliche Betreuung und das Vorhalten eines Therapieangebots bei Bedarf erforderlich.
Formulierung einer bundeseinheitlichen Qualitätssicherungsvereinbarung Adipositastherapie gem. § 135 Abs. 2 SGB V um die personellen Qualifikation sowie die Struktur- und Prozessqualität einer qualitätsgesicherten und wirtschaftlichen Adipositastherapie sicherzustellen. So könnte die Leistungserbringung an die Zusatzbezeichnung Ernährungsmedizin (DAEM/DGEM) geknüpft werden.
Zügige Umsetzung einer leitliniengerechten Adipositastherapie in die Regelversorgung
Der Gesetzgeber sollte die bedarfsgerechte Versorgung von krankhaft adipösen Patienten und ihre leistungsrechtlichen Ansprüche im Rahmen des nächsten Artikelgesetzes sicherstellen. Hierbei sollte er die Selbstverwaltungspartner anweisen, die bestehenden leistungsrechtlichen Vorgaben um die notwendigen Leistungsinhalte für eine leitlinienkonforme und bedarfsgerechte Adipositastherapie zu ergänzen.
[i] Seyfried F, Buhr H-J, Klinger C et al. Qualitätsindikatoren für die metabolische und Adipositaschirurgie. Der Chirurg 2018; 89: 4-16